Suche
Suche
Close this search box.

Seine Zeit vergeuden

Die neuen Medien sind toll – wenn du die richtigen Infos konsumierst. Es gibt viele Internet-Geschichten, die einem das Herz aufgehen lassen. So wie diese Facebook-Story:

Es war schon eine Weile her, seit Robert den alten Mann zuletzt getroffen hatte. Das Studium, Frauen, die Karriere – Robert war aus seinem Heimatort weggezogen und lebte heute am anderen Ende der Welt. Robert hatte wenig Zeit, um über Vergangenes nachzusinnen, manchmal fehlte ihm sogar die Zeit für seine Frau und seinen eigenen Sohn. Er arbeitete an seiner Zukunft und nichts konnte ihn davon abbringen. Eines Tages erhielt er einen Anruf seiner Mutter. Sie erzählte ihm, dass Herr Roosen am Abend zuvor gestorben war, und dass die Beisetzung am darauf folgenden Mittwoch stattfinden sollte.

Erinnerungen tauchten auf und Robert sass still da, und erinnerte sich an seine Kindheit. „Hast du gehört, was ich dir gesagt habe?“ fragte seine Mutter. „Aber ja, sicher“, antwortete Robert, „ich habe lange nicht mehr an ihn gedacht – um ehrlich zu sein: ich dachte, er sei schon seit einigen Jahren tot.“ – „Nun, aber er hat dich nicht vergessen. Immer, wenn ich ihn sah, fragte er nach dir. Er schwärmte von den vielen Stunden, die du damals bei ihm drüben verbracht hast, ‚auf seiner Seite des Zauns‘, wie er es nannte“, fuhr seine Mutter fort. „Das alte Haus, in dem er lebte, war einfach genial“, sagte Robert. „Weisst du, als dein Vater starb, kam Herr Roosen vorbei und meinte, es sei sehr wichtig, dass es auch einen männlichen Einfluss in deinem Leben geben sollte“, sagte Roberts Mutter. „Ja, er hat mir viel beigebracht. Ohne ihn hätte ich meinen heutigen Beruf nie erlernt. Er hat sehr viel Zeit damit zugebracht, mir alles zu vermitteln, was er für wichtig hielt. Ich werde zur Beerdigung kommen.“

Obwohl er sehr unter Termindruck stand, hielt Robert sein Versprechen. Er nahm den nächsten Flug in seine Heimatstadt. Die Beisetzung des Herrn Roosen war sehr schlicht. Er hatte keine eigenen Kinder und die meisten seiner Verwandten waren längst verstorben. Am Abend vor seinem Rückflug besuchte Robert mit seiner Mutter noch einmal das alte Haus, in dem Herr Roosen all die Jahre gelebt hatte. Er blieb auf der Türschwelle stehen. Es war wie eine Zeitreise, als öffnete sich eine andere Dimension. Das Haus war genauso, wie Robert es in Erinnerung hatte. Jeder Schritt, den er darin machte, weckte längst vergessene Erinnerungen. Jedes Bild, jedes Möbelstück erzählte Geschichten.

Robert hielt abrupt inne. „Was ist los?“ fragte seine Mutter. „Die kleine Schatulle ist weg!“ antwortete Robert. „Welche Schatulle?“ – „Es gab eine kleine goldene Schatulle, die er immer verschlossen hielt – sie stand immer hier auf dem Schreibtisch. Ich habe ihn bestimmt tausend Mal gefragt, was drin ist. Aber er sagte nur immer: Das, was mir am wertvollsten ist.“

Die Schatulle war fort. Alles andere im Haus war genauso, wie Robert es in Erinnerung hatte. Alles bis auf die Schatulle. Robert vermutete, dass ein Familienangehöriger diese Schatulle mitgenommen haben musste. Traurig sagte er: „Nun werde ich niemals erfahren, was für ihn am wertvollsten war.“ Robert war müde, also kehrte er mit seiner Mutter zurück nach Hause und flog am nächsten Tag zurück in seine Wahlheimat. Etwa zwei Wochen nach Herrn Roosens Tod fand Robert einen Benachrichtigungsschein in seinem Briefkasten. Der Postbote hatte ihn nicht angetroffen und das Päckchen wieder mitgenommen. Als Robert ganz früh am nächsten Morgen zum Postamt fuhr, überreichte ihm der Schalterbeamte ein Päckchen, das so aussah, als sei es hundert Jahre unterwegs gewesen. Die Handschrift des Absenders war kaum zu entziffern, doch schliesslich erkannte Robert die Absenderanschrift: Wilfried Roosen.

Robert setzte sich ins Auto und atmete tief durch, bevor er das Päckchen öffnete. Zum Vorschein kamen die goldene Schatulle und ein Briefkuvert. Roberts Hände zitterten, als er die Notiz las: „Bitte übergeben Sie nach meinem Tod diese Schatulle mit Inhalt an Robert Sichter. Sie enthält das, was mir in meinem Leben am wichtigsten war.“ Ein kleiner goldener Schlüssel klebte auf dem Brief. Robert standen die Tränen in den Augen und sein Herz raste, als er den Schlüssel nahm, und die Schatulle öffnete. Sie enthielt eine wunderschöne goldene Taschenuhr. Roberts Finger glitten über das wunderbar gearbeitete Gehäuse. Der Uhrdeckel sprang auf. Darin standen die eingravierten Worte: „Robert, vielen Dank für deine Zeit! – Harald Roosen“ – „Meine Zeit war es, die ihm am wertvollsten war!“ Robert hielt die Uhr eine ganze Weile in der Hand, bevor er zum Handy griff und im Büro anrief. Er sagte alle Termine für die kommenden beiden Tage ab. „Aber warum denn das?“ fragte seine Sekretärin irritiert. „Ich möchte ein wenig Zeit mit meinem Sohn verbringen“, antwortete Robert.

Autor leider unbekannt

Die Geschichte von Robert ist so gut, dass ich sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins „Wegweiser“ platziert habe.

Herzliche Grüsse
Martin Aue

  • Kategorien