Stell dir vor, du bist Therapeut und spezialisiert auf bestimmte Rückenprobleme. Meistens siehst du schon auf den ersten Blick, was den Menschen fehlt, die vor dir stehen. Aufgrund deines Wissens und deiner Erfahrung ist die richtige Diagnose oft schnell gemacht. Zudem wirken deine Behandlungen auch gut. Nach fünf bis zehn Sitzungen sind deine Kunden ihre Rückenschmerzen oft los. Und wenn sie ihre Übungen machen, kommen sie auch nicht mehr zurück. Fazit: Du machst einen guten Job und hilfst weiter. Alles gut. Aber weil du so gut bist, brauchst du auch immer wieder neue Kunden. Also entwickelst du folgenden Plan: Du könntest auf der Strasse Menschen ansprechen, bei denen du aufgrund ihrer Körperhaltung fast mit Sicherheit sagen kannst, dass ihnen etwas fehlt. Und diese Menschen könntest du als neue Kunden gewinnen. Ist das eine gute Idee? Nein ist es nicht. Warum nicht?
Du hast das Prinzip der Freiwilligkeit nicht berücksichtigt. Menschen wollen keine Diagnose, wenn sie dich nicht danach gefragt haben – aus welchen Gründen auch immer. Eventuell sind sie momentan mit anderen Themen beschäftigt. Oder sie sind sich gar nicht bewusst, dass sie ein Problem haben. Oder sie haben Angst vor der Wahrheit oder haben kein Geld für eine Behandlung. Oder sie sind schon bei einem anderen Therapeuten in Behandlung. Es gibt viele mögliche Gründe.
Gehen wir noch einen Schritt weiter: Sehr wahrscheinlich würde die Behandlung nicht funktionieren, wenn du die Person überredet hast und sie nicht bewusst nach eine Lösung gesucht hätte. Warum? Ich hatte seit vielen Jahren immer wieder mit solchen Kunden zu tun – als Dozent oder als Coach. Wenn beispielsweise Studenten unfreiwillig in Kursen sitzen, weil sie beispielsweise von ihren Arbeitgebern gegen ihren Willen geschickt wurden, kommt es selten gut heraus. Und auch bei Beratungskunden, die kommen müssen, stimmt oft das Resultat nicht. Ich frage deswegen in Coachings ältere Unternehmer oft: „Musst du noch fünf oder zehn Jahre? Oder willst du?“
Was kannst du also tun? Wenn du jemandem helfen willst, der nicht nach Hilfe sucht, beziehungsweise sich nicht helfen lassen will – lass es bleiben. Sorge lieber dafür, dass du Menschen, die Unterstützung benötigen, als erstes in den Sinn kommst. Oder mindestens, dass sie dich als erstes finden, wenn sie jemanden suchen.
Freiwillige Grüsse
Martin Aue